
Wenn wir genau hinsehen, können wir jeden Tag immer wieder aufs Neue von unseren Kindern lernen und unsere eigenen Themen und Blockaden in ihnen erkennen. Genau so war es vor ein paar Monaten bei mir:
Während mein Sohn eine seiner ersten Videokonferenzen mit seiner Klasse hatte, nutzte ich die Chance, zwei Zimmer weiter ein wenig Yoga zu praktizieren. Dabei erwischte ich mich dabei, wie meine Aufmerksamkeit immer wieder zum Nachbarzimmer huschte. Mir fiel auf, dass mein Sohn sich überhaupt nicht an der Konferenz beteiligte sondern einfach nur zusah. Ich wurde nervös und dachte: “Warum sagt er denn nichts? Er hat das Thema doch gut vorbereitet... Der Lehrer denkt jetzt bestimmt, er hat die Hausaufgaben nicht gemacht… Ist das in der Schule wohl auch so?" All diese Gedanken spukten durch meinen Kopf.
Ich versuchte herauszufinden, woher diese Gedanken kamen. Und dann wurde mir klar: Ich hatte meine ganze Schulzeit über für gute Noten gelernt und nicht dafür, mir wirklich Wissen anzueignen. Ich konnte super auswendig lernen und mich selbstbewusst präsentieren, wodurch mir gute Noten meist sicher waren. Rückblickend habe ich aber den Großteil des Gelernten schnell wieder vergessen. Eine echt bittere Erkenntnis.
Erinnerungen kamen hoch: Ich wurde in einer Zeit geboren, in der es in manchen Familien Zeugnisgeld gab. Auch bei uns. Je besser die Note, desto mehr Geld bekam ich. Meine Eltern haben diese Entscheidung damals sicherlich aus voller Überzeugung und Liebe getroffen, aber in mir hat es dazu geführt, dass ich irgendwann den Glaubenssatz entwickelt habe:
LEISTUNG = ANERKENNUNG UND WERTSCHÄTZUNG = LIEBE
Ich war der Meinung, wenn ich gute Noten schreibe, bekomme ich von meinen Eltern mehr Anerkennung und damit automatisch mehr Liebe. Das Erlangen von Wissen stand dabei für mich absolut im Hintergrund. Auch wenn meine Eltern das nie so formuliert haben, begleitet mich dieser Glaubenssatz noch bis heute.
Diese Erkenntnis hat bei mir dazu geführt, dass ich ganz bedacht mit den Leistungen meiner Kinder umgehen möchte. Sicherlich kann eine leistungsabhängige Belohnung auch zu einer Motivation bei Kindern führen, sie kann aber auch einen enormen Druck aufbauen und ein Kind lebenslang blockieren.
Mir ist durchaus bewusst, dass die Kinder heutzutage so eine Masse an Lernstoff zu bewältigen haben, dass vieles nur „auf Kurzzeitgedächtnis“ auswendig gelernt werden kann und anschließend schnell wieder in Vergessenheit gerät. Auch wenn die gute Note damit oft gesichert ist, wird der Wissensstand unserer Kinder nicht wirklich erweitert und vertieft. Was bringt es meinem Kind, wenn es die binomische Formel ableiten kann, grundlegende Dinge dafür aber auf der Strecke bleiben und es lebensfremd durch die Welt geht? Gute Noten und ein breites oberflächliches Wissen werden mein Kind nicht dauerhaft glücklich machen, die Förderung seiner Potenziale und Vertiefung seiner Interessen aber schon.
So versuche ich, meinen Kindern immer das Gefühl zu geben, dass ich sie liebe und sie ganz wundervoll sind, egal, welche Noten sie in der Schule bekommen oder welche Leistungen sie erbringen. Noten sagen nichts über unser Kind als Person aus, sondern bewerten einzig und allein eine Leistung, die es zu einer ganz bestimmten Zeit zu einem ganz bestimmten Thema erbracht hat. Nicht mehr und nicht weniger. Wenn unser Kind das verinnerlicht hat, kann es mit einem guten Selbstvertrauen durchs Leben gehen - auch wenn es mal Fehler macht.
Während der nächsten Videokonferenz meines Sohnes war ich übrigens deutlich gelassener. Ich wusste, dass er gelernt und das Thema verstanden und verinnerlicht hatte. Nach einem intensiven Gespräch mit ihm über meine Gedanken, Gefühle und Glaubenssätze konnte ich Schritt für Schritt loslassen. Er muss nun niemandem mehr etwas beweisen. Schon gar nicht mir.
Und weißt Du was das Lustige daran ist? Jetzt meldet er sich auf einmal!